Antidot

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JOHN RUSKIN: GANG IM GARTEN, 21. APRIL 1870


Vollkommen die Windstille um halb sieben morgens,
das Licht lümmelt im Gras wie ein Knabe in Ferien,
jede Farbnuance eine neue Szene, und jetzt blühen Birne,
Pfirsich und Pflaume, er schlägt den Hagedornpfad ein,
duscht in ihren silbersprühenden Wasserfontänen,

spült
die heuchlerischen englischen Gesetze herunter,
die Ausgeburt bigotter Prüderien. Wenn der Wind
wieder Fahrt aufnimmt, brüllen aus allen Richtungen
die Gleise, Clapham Junction, New Cross, Crystal Palace,
pfeifen Bahnen und Nachtigall ihr kakophones Duett.

Es gibt soviel zu sehen, für einen der langsam geht,
mehr als sich je sagen ließ, aber die Welt wird schmaler
und schneller, und nichts haben die Leute mehr zu sagen.
Er verbrachte die Tage wie Disteln und Rainfarn:
indem er die Quellen beobachtete, das Mühlwasser,

nun zugeworfen, kanalisiert, unter Schlacke und Mörtel.
Gemurmel millionenfach steigt ringsum wie Themsefluten;
im Labyrinth dunkler Mauern und gräßlicher Gassen,
gepfercht in Gier nach Reichtum, zum Leben verdammt,
hört keiner den Vogel singen, sieht keiner das Gras,

niemand bemerkt, wie die Erde durch den Raum rollt,
gequält und zitternd, irgendwann keine Wohnstatt mehr
für Menschen. In braune Mäntel gehüllt, hetzten sie
durch die Straßen, mit Plaketen und Karikaturen beklebt,
und ihre Städte wuchern wie Schimmel und Schorf,

eine Wildnis rasselnder Spinnräder, wo die Armen
kleiderlos an Hunger und Kälte verrecken. Man spottete
über seine Ideen: Fixlöhne, Altenversorgung, Qualität —
die Zeit treibt ihn in den Wahnsinn. Sein Cyanometer
liegt schon lang unbenutzt in der Ecke des Kabinetts,

nicht Wolkenschwärze, sondern überall wolkiger Dreck,
und am Himmel eine gebleichte Sonne. Michelangelo
ist einmal befohlen worden, eine Statue zu meißeln
aus Schnee. So wars und wird es sein: Durch den Spiegel,
dunkel, aber außer durch den Spiegel auf keine Art.

 

Aus: Jürgen Brôcan, Antidot. Hörby und Berlin (Edition Rugerup) 2012.