Mit Metaphern die Wirklichkeit anbohren
Zu den neuen Gedichten von Matthias Buth


Harmlos und fast beschaulich klingt der Titel von Matthias Buths neuem Gedichtband: „Der Rhein zieht eine Serenade“. Wenn derart unverdächtig eine romantische Bildlichkeit bemüht wird, ist freilich Skepsis angebracht, ob ihr Autor tatsächlich bloß einen nostalgischen Blick auf die Dinge wirft oder nicht doch eine widerständigere Lesart anbietet. Und tatsächlich ist beim Durchblättern von Buths Gedichten rasch ausgemacht, daß hier einer spricht, der nachtrauert, seine Trauer jedoch mit nüchternem Scharfblick und einer wohldosierten Prise Heine’scher Ironie bricht. Buths lyrische Stimme ist leise, aber intensiv, unaufdringlich, aber durchdringend. Daß Buth die modernistische, auf Experimente setzende Rede zu zerfahren ist, macht er mit seinem musikalischen Duktus deutlich, daß er trotzdem modern bleibt, beweisen sein Vokabular und buchstäblich seine Welt-Anschauung.
Das einleitende, ein wenig untypische Gedicht „Gesang der Füchsin“ umreißt die Ausgangsposition: „Als ich noch einmal auf wollte/ Mich zum Sprung sammelte/ Als ich Witterung aufnahm/ Von vergangenen Lauten und Schatten“, genau in diesem Moment gerät die Füchsin in die Falle, ins Tellereisen, bewegungslos und offenbar zum Singen nachgerade verdammt. Das ist auch die Aufgabe, der sich Matthias  Buth stellt: Witterung aufnehmen, den zeitfernen Echos nachlauschen, ihnen eine Sprache verleihen. Er findet dafür das Wort „Weltummundung“ — das Ausschreiten mit Gedichten, seien es Orte persönlicher Erfahrung oder historische Stätten. In einem kürzlich in der Anthologie „Umkreisungen“ (Leipzig 2010) veröffentlichten poetologischen Essay benennt Buth seinen Schreibimpuls: „Die Erscheinungen der Gegenwart im Kompetenzgefilde meiner Beobachtungen und Erfahrungen mit Worten nicht nur zu erfassen, sondern deren innere Welt freizulegen, das versuche ich seit 1973.“ Er will die Wirklichkeit aufbohren, und die Metapher ist ihm hierfür die geeignete Sonde.
Die Gegenwart steht auf dem Prüfstand, sie wird durchlässig für Vergangenes, weil die Vergangenheit die Basis für zukünftige Modelle darstellt. Da hämmert beispielsweise eine „Orgelflak“ mitten in einer Sonate von Mendelssohn und schießt Löcher der Verzweiflung in den Himmel. Da ist der PC allgegenwärtig, der Verbindung vorgaukelt, wo Distanz herrscht, selbst dann noch, wenn „wir heruntergeladen werden / Auf die Festplatte Tod“. Buths Gedichte sind weniger Vergewisserungen über einen Endzustand als Notizen transitorischer Momente, die im ICE oder auf freier Strecke stattfinden können. Eine Bewegung, die ihre Entsprechung auf grammatischer Ebene in manchmal abrupten Zeilenbrechungen findet oder in Zeilen, deren Anschluß wegen des Verzichts auf Interpunktion nicht sofort ersichtlich ist.
Im Vergleich zu seinen früheren Gedichten ist Buth politisch nachdrücklicher geworden, ohne allerdings in populistische Parolen zu verfallen. Er beherrscht die heikle Balance zwischen nüchternem Registrieren, zurückgehaltenem Zorn und elegischer Anklage. Dabei scheut er sich nicht, heikle Themen anzupacken: „Mit 24 Stichen/ Oder mit 50/ Mit vulkanischer Wut/ Oder kühler Berechnung/ Zu Hause/ Oder im Park oder in der Unterführung“ konstatiert beispielsweise ein Gedichts über sogenannte Ehrenmorde, und über die Gottesferne von Selbstmordattentätern heißt es: „Verhüllt/ Sind die Antworten schwarz/ Enger ziehen sie die Gürtel/ Gott ist kein Hirte/ Kein Ort kein Wort das/ Im Anfang war“. Zeitgenosse zu sein, bedeutet kritisches Mitleid mit der von einer tragfähigen Sprache abgeschnittenen Kreatur zu haben.
Das Leitmotiv der verfehlten Kommunikation, die Vereinzelung des Menschen in seinem „Ich-Verliess“, zieht sich durch gesamten Band. Höchstens die Natur-Sprache gewährt einen Ausblick ins Offene: „In Assisi beschriften Mauersegler den Nachmittag“. Doch selbst wenn die Kommunikation nur aus „Endlosschleifen“ und „Zwischenräumen“ besteht, ist sie noch, wie einst beim alttestamentarischen Sänger David, zu Psalmanrufungen fähig. Gottzweifel ist zwar Sprachzweifel, aber eben auch die Erkenntnis: „Nein nicht erst im Verschwinden aus den Dingen/ Schon jetzt ist er möglich/ Der Himmel“. In Buths zehn Psalmen, die gedanklich im Mittelpunkt des Bandes stehen, wird qua Sprache eine Verbindung gezogen zwischen einem liebenden, erotisch-leiblichen Du und dem Du eines Gottes. Das Schreiben auf ein Du hin ermöglicht auch die Erinnerungsarbeit, das Vergegenwärtigen von Geschichte angesichts des Individuums, so daß auch die Namen der Toten — „Zwei auf Usedom“, „TransNamib“ — Bestandteil des Gedichts werden können.
Matthias Buths lyrische Sprache verfügt über verschiedene Register, um die Komplexität des Lebens darzustellen, sie ist jederzeit auf das Wesentliche reduziert und kennt keine Geschwätzigkeit, den sie nimmt sich ihrer Beobachtungen mit existentiellem Ernst an, in der Falle, im Tellereisen, wie die Füchsin des Eingangsgedichts. Sie zeigt aber auch den Ausweg aus dieser Falle (man erinnere sich an Wittgensteins berühmte und vielzitierte Fliegenglas-Metapher), indem sie nämlich Bilder einer schwerelosen Melancholie zeichnet, die der Dichter überallhin wie Türen aufstößt: in Musik, in Kunst, in Landschaften. Doch man lasse sich von der ruhigen Melancholie nicht täuschen: Zwischen den Zeilen Buths dröhnt es gewaltig.



Matthias Buth: Der Rhein zieht eine Serenade. Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2010. 132 S., 20,- €.