Clayton Eshleman:

Die Friedhöfe des Paradieses


 

CHAUVET, LINKE WAND DES HINTEREN SAALS


Die Konturen einiger Höhlenwände fordern zum Kampf heraus.
Heerscharen in der Wand, nackt, konvex,
halten Nachtwache über geistiger Drift. Die Mond-
landschaft einer Wand zu bevölkern. In erhellte Krater
Drehung und Windung des leibhaftigen Versuchs zu zeichnen.
Ihre Bäuche hängen, ihre Schultern heben
und senken sich wie Kolben, jedes Aufsetzen des Fußes
ist geräuschlos. Panthera spelea. Größer als
der afrikanische Löwe. Größer noch
als der Amurtiger. Ohne Mähne. Vorwärts stelzend.
Mit gewölbten Wangen. Köpfe schieben sich aus Köpfen vor.
Die Augen aufgerissen. Wissend und liebevoll ausgeführt.
Geschickt schattiert. Knochenstruktur und Tiefe.
Manche sind bloßer Umriß, der Kalkstein schimmert durch.
Insgesamt 73. Einer mit Specklippen erinnert
an einen Cartoonmenschen. Das Gottes-Monster
als Menschenfresser. Raubtiergottheit. Jehovahs Vorhäute.
Zeus Lykaios. Hinter sakralisierter Gewalt
das Trauma vom Gejagtsein und Gefressenwerden.
Damit es klar ist: Tierischer Holocaust in der späten Eiszeit
korrespondiert mit dem Beginn des Krieges.
Die Haube des Großdunkels,
ihr roter Atem springt westwärts zu
einem senkrecht angeschrägten
„Totem“ aus Wisentschädeln, ausgesprüht
wie fette pelzige Käfer. Ein Mammutkind mit
Räderfüßen. Hufe, von oben gesehen? Vollmonde?
Der Körper rauchig braune Schraffur. Darüber
taucht ein massiger Wisent aus einem Spalt.
Zwei uns zugewandte Wisentköpfe,
einer auf der Lende, einer auf der Schulter des Löwen.
Fleischfressertattoos. Zielscheiben. Frühster Körperschmuck.
Proste mir zu mit nur deinen Reißzähnen. Energie,
die ich einsetzen will. In einem feuchten
schabenden Licht als würde Arshile Gorky
seinem Leben nachspüren, finster wie eine Löwengrube,
oder Hans Bellmer, seine erotische unendliche Linie
lebendig vom blockierten Orgasmus-Rohr.
Enkidu. Humbaba. Teelget. Herkules in Nemea.
Grendel „zerbiß das Gebein,
das Blut schlürfend,
schlang und schluckte, hatte gar schnell
den leblosen Leib verzehrt,
samt Faust und Fuß“. Astarte auf dem Löwenrücken.
Artemis mit einer Halskette aus Bullenhoden.
Rhinozeros mit 8 übergroßen parallel geschwungenen Hörnern,
als hätte Marcel Duchamp sie gezeichnet,
Rhinozeros, von einem Löwenstarren herabsteigend.
Hörnerstammeln. Flußstrom fleischerner Meilen,
Puzzle aus Rhinoleibern. „Mittelstreifen“
lassen sie wie „gepanzerte“ indische Rhinos aussehen.
Skizzenbuch dieser Wand. Begonnen, gestrichen.
Körperteile in einem Fugen-Labyrinth. Opferdiagramm.
Palimpsest von Tier und Mensch. Und kein Ende.
Aber das Ende kommt. Als ich auf der Aluminiumrampe stand,
dehnte ein CEO sein Auge über den Planeten
wie ein interstellarer Weihnachtsmann,
der Sack voll und ab zum Saturn.

Clayton Eshleman: "Die Friedhöfe des Paradieses",
übertragen von Jürgen Brôcan, ist im Hanser Verlag, München 2011
erschienen