Ortskenntnis

Ortskenntnis

 

ERSTES GEDICHT NACH DEM EINZUG


... neue Blumen, neue Vögel — ein Häher
mit prallblauer Flügelzeichnung landet
auf dem wackeligen Spalier — ,
später ihr bekanntes V,
der herbstliche Flugkonsonant; und hinten
die strenge Geometrie dreier Fichten.

Sonne ausgeschüttet übers Parkett, zerkratzt
wie eine Schellackplatte, ihre Ost-
rose vom Spinnennetz im Türrahmen;
unbekannte Stille;      und das Gedicht:
Schwamm dieser Stille, Schwamm
der Stadtgeräusche, unfertig
wie der Anstrich...

Unter den Fliesen, den Paneelen, dem Putz:
die Stimmen unserer Vorbewohner,
Radioimpulse aus
der Vergangenheit eines er-
loschenen Fixsterns, der für uns noch
ist.      Zelebration eines Durch-
klingens,      wie er das genannt hätte,

melancholischer Ekstatiker der Provence,
der heute vor einem Monat starb

am Hunger des Krebses... Öffne
eines seiner Bücher, lese
dem ungemähten Gras vor, den wilden
Klettertrompeten, dem Thymian,
dem Lavendel, dem Ros-
marin... O Sin-

ne, ihre Echos im Kortex!


(für Gustaf Sobin, 1935-2005)

Stimmen zu "Ortskenntnis"

"Scheinbar unscheinbaren Mikrokosmen wendet sich die Aufmerksamkeit des Lyrikers mit geduldiger Insistenz zu [...]."

NZZ, 12. Juli 2008

"Der dreiundvierzigjährige Dortmunder Dichter schleift die Sprache zu einem Kristallglas. 
Wer hindurchblickt, für den werden die unscheinbarsten Vorkommnisse [...] zur Epiphanie."

FAZ, 10. November 2008

 

Aus: Jürgen Brôcan, Ortskenntnis. Gedichte 1996-2006. München 2008, Lyrikedition 2000 

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