LächelSpott & TrauerKlang
Wolfgang Schlüters Anthologie englischer Dichtung


Die Übersetzung: ein Brückenbau. Diesem oft zitierten Bild zufolge träte der Übersetzer an als jemand, der aus den Trümmern Babels gangbare Wege vom Ufer der einen zum Ufer einer anderen Sprache schafft. Doch nach welchen Plänen, Grundrissen und Massstäben soll er bei seiner Arbeit vorgehen? Die Suche nach solchen normativen Vorgaben durchzieht spätestens seit der Aufklärung die Äusserungen von Theoretikern und Praktikern zur Übersetzungsproblematik, ohne dass sich aus ihren Kontroversen ein verbindlicher Leitfaden ableiten liesse. 

Das Übersetzen, vor allem literarischer Texte, bedeutet in jedem Fall mehr als die blosse handwerkliche Tätigkeit des Verpflanzens und Versetzens, die im Ursprung des Wortes translatio steckt. Das Lateinische kennt für die übersetzerische Arbeit mehrere Worte, die dem Bedeutungsbereich des Interpretierens angehören. Interpretation erschöpft sich nicht im Verstehen grammatischer und lexikalischer Strukturen des Originals, sondern erfasst auch dessen konnotative Spielräume. Die Entscheidungen, die der Übersetzer bei jeder Zeile zu treffen hat, wären somit bereits zumindest im Ansatz kreative Wiederholungen. 

Insbesondere der Übersetzer von Lyrik weiss, dass die Beschäftigung mit theoretischen Grundlagen hilfreich ist, weil sie für bestimmte Fragestellungen sensibilisiert, ihn aber im Einzelfall kaum weiterführt. Jedes Gedicht bringt eine Eigengesetzlichkeit mit, deren Wiedergabe höchstens in sich stimmig sein muss. Am sinnfälligsten scheint es also, die Übersetzung als Prozess aufzufassen: als dauernde Bewegung zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Das Gedicht macht in der Übersetzung immer eine Transformation durch, es bleibt ein Abstand zum Original, es gehen Aspekte verloren, es kommen andere Aspekte hinzu. 

Auf der einen Seite steht die oft geforderte philologisch korrekte, möglichst wortnahe Übersetzung, die "noch lange keine Treue" ist, wie Friedrich Schlegel angemerkt hat; auf der anderen die Wiedergabe von Sinn, Stimmung und Wirkung. Beides vollkommen in Einklang zu bringen gelingt selten, so dass der Übersetzer sich meist im vagen Terrain von Zwang und Freiheit befindet. Wolfgang Schlüter ergreift jede Gelegenheit, um die Fesseln einer missverstandenen Korrektheit abzustreifen, und betätigt sich als "Verschwender" beim "Ausfüllen der konnotativen Hohlräume", die sich allenthalben auftun (vgl. dazu Schlüters exzellentes Nachwort). 

Ein Original ist ein für alle Mal historisch fixiert, seine Übertragung hingegen variabel, von Moden, Sprachgewohnheiten und ideologischen Konzepten abhängig. Schlüter tilgt diese Differenz, indem er ein kontemporäres deutsches Idiom sucht, das dem jeweiligen englischen entsprechen könnte, und unterbricht auf diese Weise die Vergegenwärtigung eines uns zeitlich fernen Textes. Eine Strophe aus einem anonymen Gedicht des 13. Jahrhunderts soll dies illustrieren:

Summer is icumen in - 
Lhude sing! cuccu. 
Groweth sed and bloweth med 
And springeth the wude nu - 
Sing! cuccu.

Die Übersetzung in heutige Sprache lautet so (entnommen Werner von Koppenfels' mehrbändiger Anthologie englischer Dichtung, C.H. Beck, 2000):

Sommer kam ins Land gezogen - 
Kuckuck, sing nur zu! 
Es spriesst die Saat, frisch grünt der Hag, 
Es blüht die weite Flur - 
Sing nur, Kuckuck!

Schlüter fasst diese Zeilen in ein entsprechendes, nachempfundenes Mittelhochdeutsch:

summer ist gezogen în, 
lûte sing, kukkû! 
gras stêt uf bloumen anger mâd, 
das holz in vollem lawbe stêt - 
sing, kukuk nû!

Schwerlich können diese beiden Möglichkeiten nach den Kategorien von "richtig" oder "falsch" gegeneinander ausgespielt werden. Der Vorteil von Schlüters Verfahren liegt dennoch auf der Hand: Die Anverwandlung des Gedichts in ein mittelhochdeutsches Idiom erzeugt, auch wenn dies dem Leser eine intralinguale Übersetzungsleistung abverlangt, eine Atmosphäre, die eine für uns zeitgemässe Sprache nicht erreicht. 

Übertragungen setzen schneller Patina an als die ihnen zugrunde liegenden Texte. In ein Deutsch aus welcher Zeit soll man also übersetzen? Da die englische Sprache eine vergleichsweise geringere Entwicklung als die deutsche vollzogen hat, wirkt ein "älteres" englisches Gedicht vom heutigen Standpunkt aus weniger fremd als ein deutsches der gleichen Epoche. Würde man es bemüht wörtlich wiedergeben, statt die ursprünglich intendierte Wirkung nachzuahmen, gingen unter Umständen etliche Nuancen verloren. Die satirisch-burleske Schärfe von Jonathan Swift oder John Gay etwa wäre geradezu narkotisiert, käme als harmlose Plänkelei daher, und Percy Bysshe Shelleys bis ins Extrem gespannte Dichtung erginge sich in falsch verstandener Romantisierung. Schlüter verhindert dies mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln. 

Die altertümliche Orthographie seiner Übersetzungen verleiht den Gedichten zudem ein passendes Kolorit. Strahlt ein "Crystall" nicht heller, "blizt" die Sonne nicht zackiger hervor, erscheint ein "Hauffen" nicht massiger? Konterkariert wird dies allerdings durch Wendungen, die in älteren deutschen Texten wohl nicht zu finden sind: Wir erfahren von "City-Trügereien" und "der City Pest-Odeur", oder dass "Business en vogue" ist und zum "Way of Life" gehöre. Solche unkonventionellen Lösungen geraten rasch in den Verdacht eines Verrats am Werk, wenn man sie voreilig aus dem Zusammenhang isoliert. 

Aus textimmantenter Sicht ist es jedoch durchaus vertretbar, "airy praise" mit "in die Luft gesprochenes Lob-Geseier" einzudeutschen und "And I with them shall travel on / Through all Futurity" mit "Bald werde ich mit ihnen ziehn / vitam venturi saeculi hinan". Nur die vom Wortlaut abweichende Ausschmückung vermag die Klangkaskaden am Beginn eines anonymen Gedichts aus dem 15. Jahrhundert effektvoll nachzuzeichnen:

Swarte-smeked smethes, smatered with smoke, 
Drive me to deth with den of here dintes: 
Swich nois on nightes ne herd men never, 
What knavene cry and clatering of knockes!

Schwarzschlackiger Schmiede - schuftend in schmierigem Schmauch - 
Schnaufendes Tosen treibt mich zu Taubheit & Tod: 
Nimmer vernahm solchen Lärm noch niemand zur Nacht; 
Welch Kumpels Krakeelen und klappernd-knatternder Krach!

Übersetzen heisst: kalkuliertes Spiel mit allen plausiblen Möglichkeiten der eigenen und mit den potentiellen Bedeutungen der anderen Sprache. Der in diesem Zusammenhang häufig auftauchende Begriff "Adäquatheit" wäre somit von der rein sprachlichen Ebene auf historische Parallelen auszuweiten. Sir Richard Blackmores Beschreibung des Verdauungsvorgangs - eine der wunderbaren Trouvaillen in Schlüters Anthologie - erhellt beispielsweise die physikotheologische Dichtung des (an England orientierten) Barthold Hinrich Brockes, und Thomas Hardys Verse, noch spätviktorianisch und schon modern, werden in die Nähe der Übersetzungsprinzipien Rudolf Borchardts gerückt, die Kühnheit und Archaik amalgamieren. 

Reiz und Raffinement der Übertragungen Schlüters erschliessen sich vor allem durch den Vergleich mit den Originalen. Dass die gefundenen Lösungen vielleicht nicht immer vollends überzeugen und die Übersetzerpersönlichkeit bisweilen allzu stark durchbricht (Schlüter räumt selbst ein, er würde mittlerweile mit mehr Skrupel an Texte herangehen), bleibt dank des durchgehend hohen Niveaus, der Sprachbeherrschung und Innovationslust eine Lässlichkeit. Ja, es intensiviert sogar die Auseinandersetzung und schärft das Ohr für unerwartete Momente der Frechheit und Frische, die neue Zugänge eröffnen. 

Die Auswahl, die von anynomen Gedichten aus dem 13. Jahrhundert bis zu William Butler Yeats und Rupert Brooke reicht, hat kein repräsentatives Ziel, sondern folgt allein den Neigungen ihres Übersetzers. Ein grosser Teil dieser Texte (insgesamt fast 250 von mehr als 110 Autoren) würde wohl nur selten in deutschsprachige Anthologien aufgenommen werden, und dies nicht ihrer minderen Qualität wegen. Schlüter hat sich erfolgreich als Schatzgräber im Abseitigen und Übersehenen betätigt: Richard Owen Cambridge sinniert mit gepfeffert politischem Witz darüber, wer auf dem von seiner Tochter gestickten Sitzpolster Platz nimmt; Edward, Lord Herbert of Cherbury meditiert über die Farbe Schwarz; Samuel Danyel besingt den "SorgenBesänft'ger Schlaf"; Soame Jenyns trauert um Dr. Samuel Johnson und Henry Constable vergleicht die Schönheit seiner Dame mit einem Blumengarten. 

Die nivellierenden, jeweiligen Sprachkonventionen angepassten Bedingungen vieler Verleger fördern das kreative Übersetzen nicht. Daher darf es als Glücksfall angesehen werden, dass Urs Engeler diese Anthologie, die bisher nur als einsprachiger bibliophiler Druck (1991) vorlag, einer grösseren Leserschaft zugänglich gemacht hat. Die hervorragende Gestaltung des Buches vermehrt das intellektuelle Vergnügen um ein optisches und ein haptisches. Wer diesen weissen Ziegelstein einmal in Händen gehalten hat, wird ihn in seiner Bücherwand wahrscheinlich nicht mehr missen wollen.

Jürgen Brôcan

My Second Self When I Am Gone. Englische Gedichte, übersetzt von Wolfgang Schlüter. Urs Engeler Editor, Basel 2003. 708 S., Fr. 58.-.