Zelluloidlegenden
Eine Spurensuche
im alten Hollywood
Der
amerikanische Lyriker Gustaf Sobin, der seit fast vier Jahrzehnten in
der Provence lebt, schrieb seinen ersten Roman vergleichsweise
spät, mit Mitte fünfzig, und ihm gelang auf Anhieb
ein Meisterwerk. Venusblau („Venus Blue", 1991) ist eine
kritische Hommage an das Hollywood der dreissiger Jahre und
erzählt eine mitreissende Geschichte mit philosophischem
Tiefgang, voller Sinnlichkeit und Sentiment, vielschichtig konstruiert,
in kraftvoller Sprache, umweht von einem Hauch Film noir.
Der Roman besteht aus zwei
Handlungssträngen, die genau ein halbes Jahrhundert trennt.
Der Lungenspezialist Stefan Hollander, ein Sammler cineastischer
Erinnerungsstücke, gelangt auf dubiose Weise in den Besitz
eines Tagebuchs, das die Drehbuchautorin Millicent Rappaport verfasst
hat. Es handelt sich um das einzige erhaltene Exemplar, denn alle
anderen der Kleinstauflage wurden gestohlen und vernichtet. Von diesem
Tagebuch erhofft sich Hollander zum einen Aufschlüsse
über den bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen
Hollywood-Star Molly Lamanna, zum andren über jenen
geheimnisvollen Luis de Saumerez, dem die Aufzeichnungen offenbar
ursprünglich zugedacht waren.
In diesen Erzählrahmen ist das M.L.
betitelte Tagebuch eingeschoben. In ihm berichtet Millicent von ihren
Begegnungen mit Molly Lamanna: sie war Pilotin von
Kurierflügen für das Studio, bis sie
zufällig entdeckt wurde und dann in einigen wenigen
Spielfilmen mitwirkte. Aus Neugierde entwickelt sich rasch eine
erotische Faszination. Da Mollys Ausstrahlung und Verhalten in einem
Gedächtnisverlust ursächlich zu sein scheinen,
versucht Millicent, dem Geheimnis Mollys auf die Spur zu kommen, und
wird bei ihren Nachforschungen mit ihren eigenen Motivationen
konfrontiert.
Aus dieser Konstellation entwirft Sobin ein Drama
menschlicher Verwicklungen, in dem die Personen zueinander wie Spiegel-
und Gegenbilder stehen. Millicent erkennt in Molly (die später
bezeichnenderweise auch „Milly" genannt wird) ihr Ideal: hier
die in gesellschaftliche Konventionen und eine unbefriedigende Ehe
einge-sperrte Autorin, dort die Schauspielerin, die solche Regeln
ignoriert, von kindlicher Naivität ist und sich durch ihre
heimlichen Nachtflüge buchstäblich dem Boden
entzieht. Dagegen zählt für das Filmsternchen Vivien
Voigt, die Molly zum Verwechseln ähnlich sieht, vor allem,
dass die Bekanntschaft mit ihr ein Sprungbrett für die
Karriere darstellt. Trotz äusserlicher Gleichartigkeit fehlt
ihr die Beseeltheit, die Molly ausstrahlt; sie ist eine Figur des
schönen Scheins und der schnöden Imitation.
In diesen ungesicherten Identitäten
spiegelt sich das Zeitgeschehen wider, der Vorabend und Beginn des
Zweiten Weltkriegs, der eine — geschickt angedeutete
— Parallele in dem Drehbuch findet, an dem Millicent gerade
arbeitet. „Ich muss daran glauben", beharrt sie,
„dass wir vielleicht immer noch eine Wahl haben, dass wir auf
geheimnisvolle, unerwartete, vielleicht sogar zufällige Weise
die verborgene Sprache der Menschlichkeit entdecken könnten."
Der Film Mongolensturm soll in seinen Rückblenden auf eine
fiktive Episode aus Dschingis Khans Jugend die Frage aufwerfen, ob er
eine Alternative zur Zerstörung Samarkands gehabt
hätte.
Dass Venusblau der Titel eines von Millicent
vernichteten Drehbuchs über das Leben Molly Lamannas ist und
dem gleichen Aufbau wie der Bericht Stefan Hollanders folgt, ist nur
ein Aspekt im komplexen Vexierspiel, durch das Sobin den Leser
führt. Am Ende runden sich die Spannungsbögen, werden
die Handlungsfäden verbunden: Millicent reist nach Frankreich,
um Informationen über Mollys Leben vor der Amnesie zu
bekommen, Hollander reist in die entgegengesetzte Richtung, an die
Westküste der USA, um Luis de Saumerez ausfindig zu machen.
Doch auch wenn der Schluss eine Auflösung
präsentiert, bleiben die Beweggründe der
Protagonisten letztlich im Dunklen, nicht erhellt vom flimmernden Glanz
des Films.
Die Übersetzung des Romans fällt fragwürdig aus und zeigt beispielhaft das Dilemma, in dem sich ein Übersetzer von Sobins Prosa befindet. Diese trägt mit ihren Wiederholungen, zahllosen Parenthesen und der gliedernden Interpunktion erkennbar die Handschrift des Lyrikers. Zwar liest sich die Übersetzung erfreulich angenehm und flüssig, sie bewahrt jedoch oftmals nicht den spröden Stil des Originals, als dürfe er dem Publikum nicht zugemutet werden. Eine vorsichtige, behutsam ausgelotete Glättung mag durchaus zu diskutieren sein, aber sie darf nicht, wie im vorliegenden Fall, soweit reichen, dass Satzkonstruktionen versimpelt und einzelne Worte oder ganze Sätze eliminiert werden. Au-sserhalb der Diskussion stehen natürlich Fehler, etwa wenn die Stadt „Mobile, Alabama" als „In Alabama, ohne festen Wohnsitz" missdeutet wird. Man kommt nicht daran vorbei, die (inzwischen leider vergriffene) Originalausgabe zum Vergleich daneben zu legen.
Jürgen Brôcan
Gustaf Sobin: Venusblau. Aus dem Amerikanischen
übersetzt von Wolfram Ströle. Berliner Taschenbuch
Verlag. Berlin 2002. 300 S.
Träume
und Trüffeln
Der dritte Roman
von Gustaf Sobin
Ein Mann durchstreift mit einer zurechtgeschnitzten Gerte die Wälder der Provence, klopft das Unterholz ab, um auf diese Weise Fliegen aufzuscheuchen, deren Eiablageplatz ein untrüglicher Hinweis auf eine tief in der Erde verborgene Trüffel ist: Philippe Cabassac, "ein feuriger Rationalist, durchdrungen von der Philosophie der Provencalischen Aufklärung".
So beginnt der neue Roman von Gustaf Sobin. Doch was diesem idyllischen Bild folgt, sind keineswegs die Erfahrungen eines Gourmets, sondern der Bericht der kurzen und tragischen Liebesgeschichte des Professors für die untergegangene provencalische Sprache mit einer seiner Studentinnen. Mit Cabassac und seiner Geliebten Julieta treffen zwei Menschen aufeinander, die aus unterschiedlichen Gründen entwurzelt sind, den Bezug zum Leben verloren haben und jetzt von ihrer unbewältigten Vergangenheit eingeholt werden. Aus dieser Distanz entspringen die Chancen einer Liebe, die letzten Endes aber scheitern muss.
Nach dem Tod Julietas - sie stirbt, als sie nach einer Fehlgeburt erfährt, dass sie kinderlos bleiben wird - verfällt Cabassac zusehends, er vernachlässigt sich selbst und seine beruflichen Verpflichtungen, und verliert schliesslich aus Unachtsamkeit sogar seinen Grundbesitz an einen Spekulanten. Es zählt für ihn einzig die Suche nach jenen Trüffeln, deren halluzinatorische Wirkung die Fortsetzung seiner Träume ermöglicht. Denn in diesen Träumen ereignet sich das, was ihm das Leben verwehrt hat: die Geburt eines Kindes.
Das wenige Personal, mit dem der Roman auskommt - ausser dem Liebespaar noch die mit im Gutshaus lebende Tante Mirèio - , fügt sich zu einer Konstellation fataler Ähnlichkeiten mit geliebten, zu früh verstorbenen oder entfremdeten Menschen. Eigene Erinnerung, Vergangenes wird bewahrt, nicht verändert, so wie die alten Wörter des Provencalischen von Cabassac und Julieta gesammelt und registriert werden, bis die Landschaft selbst sich in nichts als Wörter verwandelt: "Wundervolle Gefäße."
In anderen Gefässen wiederum werden jene geheimnisvollen, aber auch gefährlichen Fruchtbarkeitssymbole aufbewahrt: die Trüffeln, die eingangs als "ein Wunder reiner Symbiose" bezeichnet werden und die die gleiche Reifezeit benötigen wie ein menschliches Wesen, neun Monate. Im Leben unfähig eigener Fortpflanzung - er sieht das ungeborene Kind als einen störenden Fremdkörper an - , lebt Cabassac diese in seiner Phantasiewelt aus. Den wirklichen und verhängnisvollen Wandel draussen ignoriert er noch, als bereits die Planierraupen vor seinem Haus stehen.
Sobin erzählt die komplex und vielschichtig konstruierte Geschichte des Trüffelsuchers Cabassac in einer sehr lyrischen Sprache, gedrängt, schnörkellos und klingend. Obwohl ein Spannungsbogen vom ersten zum letzten Teil des Romans geschlagen wird, entwickelt er sich still und ohne aufgesetzte Effekte. Zuweilen scheint es, die Linearität der Zeit würde aufgehoben durch immer neue Anläufe, wiederkehrende Phrasen und Motive, die das Buch wie die idée fixe einer Partitur durchziehen. Das Erzählen wird zu einem Ritual des Erzählens, in dem nicht der Ausgang des Erzählten wichtig ist, sondern sein sprachlicher Vollzug.
Sobin überträgt die dichte, eigentümliche Diktion seiner Lyrik auf die Prosa, ohne dass diese dadurch schwerfällig würde, im Gegenteil es ist der Sprachklang, der die Geschichte, und mit ihr den Leser, vorwärts trägt. Ihn wiederzugeben ist dem Übersetzer, mit mancherlei Einschränkungen im Detail, auch gelungen. Ärgerlich allerdings sind die vielen nicht notwendigen Abweichungen vom Originaltext, die ein weiterer Korrekturdurchgang hätte beheben können und sollen. Dennoch bleibt selbst in der Übersetzung zu spüren, dass "Der Trüffelsucher" ein sinnliches, erdverbundenes Buch ist, wie es selten geschrieben wird.
Jürgen Brôcan
Gustaf Sobin: Der Trüffelsucher. Roman. Berlin Verlag. Berlin
2000. 192 S.
Die
Geburt einer Göttin
Gustaf Sobins
Roman über Greta Garbo
„Im Winter 1924 in Konstantinopel trat
sie hinaus in einen illusionären Raum von
Möglichkeiten ihrer selbst. Ihre Vergangenheit war ausradiert,
von jetzt an wechselte sie immerfort die Rollen und Pseudonyme und
Verkleidungen auf ihrer Suche nach einer Person, die vielleicht
längst nicht mehr existierte." Gemeint ist die im ganzen Roman
aus Respekt vor ihrer Privatsphäre, wie es einmal heisst,
niemals namentlich genannte Greta Garbo.
Was ist in jenem „magischen Moment" am
Bosporus geschehen, in dem aus einer ehemaligen Friseurgehilfin der
berühmte Filmstar wurde, die Göttliche, das Gesicht
des Jahrhunderts? In jenem Jahr wollte die Garbo mit ihrem Entdecker
und Förderer, dem Regisseur Mauritz Stiller, einen Stummfilm
(„Die Odaliske von Smolny") drehen, der jedoch letztlich
nicht realisiert werden konnte, weil die Produktionsfirma Bankrott
anmeldete. Irgendeinen Auslöser für Garbos
Verwandlung muss es gegeben haben — so zumindest imaginiert
es, Jahrzehnte später, Philip Nilson, ein an Knochenkrebs
erkrankter kalifornischer Autor.
Während seines Aufenthalts in einem Hotel
an einem französischen Alpensee ist das Drehbuch, das seine
letzte Arbeit wird, ein Stimulans, um der tödlichen Krankheit
noch einige Lebenstage abzutrotzen: „Warum war ich denn
überhaupt hier, warum pumpte ich mich alle zwei Stunden mit
Morphium voll, das meine ausser Rand und Band geratenen Zellen
betäubte, wenn nicht in der Absicht, jenen einzigartigen
Moment zu gestalten?" Allerdings veranlasst ihn die Arbeit, zugleich
auch Bilanz über seine eigenen geheimen Motivationen und
Wünsche zu ziehen. Eine betrübliche Konfrontation.
Philip Nilson ist eine typische Romanfigur des
amerikanischen Schriftstellers Gustaf Sobin: einsam, melancholisch, am
Leben gescheitert, auf der Flucht vor der Wirklichkeit. Alle seine
Protagonisten taumeln gewissermassen durch ein Spiegelkabinett von
Identitäten in der Hoffnung, im Bild einer anderen Person zu
sich selbst zu finden: die an eine unbefriedrigende Ehe gebundene
Hollywoodautorin Millicent Rappaport („Venusblau"); der
trunksüchtige Schriftsteller Guy Fallows, der die eigene
Geschichte in einer seiner Romangestalten wiedererkennt („Das
Taubenhaus"); der Professor für die alte
provençalische Sprache, der traumverlorene Philippe Cabassac
(„Der Trüffelsucher").
Das Motiv des Spiegels, das „Spiel mit
Spiegeln und Reflexen und Ähnlichkeiten" variiert auch Sobins
neuster Roman. Auf Wahlverwandtschaften mit unseliger Beschaffenheit
verweisen bereits die Namen der Personen: Philip Nilson teilt mit dem
neuen Mann seiner Exfrau das verblüffend gleiche Aussehen und
den Vornamen; der Name der Exfrau selbst, Laura, erinnert an jenen von
Philips Jugendliebe, Leila, deren Bild er vergeblich in allen seinen
Beziehungen nachjagte.
Doch Sobin spannt das Netz der
Ähnlichkeiten noch weitaus dichter. Mauritz Stiller sieht in
der Garbo, seinem Kunstprodukt, seine Vorstellungen erfüllt,
die ihm selbst versagt blieben; und Philip Nilson hat sich nicht
zufällig in dieses Thema verbissen. Der Drehbuchautor
konstatiert eine „lebenslange Maskerade" der Garbo, eine
innere Leere, die es ihr ermöglichte, alle
Gefühlszustände perfekt durchzuspielen. Dies ist
Nilson vertraut, denn auch er war imgrunde ein Leben lang auf der
Flucht in eine fiktionale Welt.
Der Roman ist eine raffinierte Reflexion über Kunst und
Realität, über Fakten und Fiktion. Mehrfach verwischt
er die Grenzen zwischen beidem auf den miteinander verknüpften
Erzählsträngen: Zum einen spinnt Philip Nilsons
Drehbuch die biographisch belegten Ereignisse aus dem Leben von Garbo
und Stiller behutsam fort, zum anderen interviewt der (fiktive) Autor
reale Personen, denen Sobin in der Vorbemerkung gedankt hatte. Nur eine
Recherche könnte entscheiden, ob der neunzigjährige
ehemalige Beleuchter, der schliesslich den entscheidenen Hinweis auf
jenen „magischen Moment" liefert, eine tatsächlich
existente oder eine frei erfundene Figur ist.
„Auf der Suche nach einem verlöschenden Stern", von Peter Knecht verlässlich ins Deutsche übertragen, inszeniert mit sparsamen Mitteln ein Kammerspiel von beklemmender Intensität: sinnlich, fulminant konstruiert und trotz der schnörkellosen Erzählweise von einer geradezu hypnotischen Duftwolke umhüllt. Zu Beginn beschreibt Philip Nilson in seinem Drehbuch, wie die Kamera erst nach und nach die Garbo in der Totalen erfassen, aber ihr Geheimnis nicht preisgeben soll; das gleiche gilt, unter anderen Vorzeichen, für den Roman selbst: vieles wird analytisch beleuchtet und letztlich doch nicht völlig erhellt.
Jürgen Brôcan
Gustaf Sobin: Auf der Suche nach einem verlöschenden Stern. Roman. Aus dem Amerikanischen von Peter Knecht. Berlin-Verlag, Berlin 2003, 144 S.