Im
Strudel des Vergessens
William T. Vollmann porträtiert einen Trinker
Es ist ein wahrer Höllentrip, auf den uns der amerikanische Schriftsteller William T. Vollmann durch das Rotlichtviertel von San Francisco, den Tenderloin, mitnimmt. In bis zur Überzeichnung grell realistischen Bildern entwirft er ein Panorama dieses Distrikts mit seinen unzähligen Bars, Huren, Transvestiten, Obdachlosen, Zuhältern und Dealern, mit seiner Gewalt und seinem Dreck, mit seinen Illusionen und Maskeraden, mit der Angst vor Aids und dem trügerischen Trost der Drogen. Und mittendrin ein einsamer Mann, der “ein verzweifeltes Gebet für Schönheit” in die Gossen stammelt und kotzt.
Es nimmt kein gutes Ende mit diesem Jimmy. “Voller Liebe zu
Gloria, starb er unter unvorstellbaren Qualen”,
erfährt man sofort am Anfang des Romans. Jimmy ist die
Alptraumseite des amerikanischen Traums, ein imgrunde
gutmütiger Trinker, der seine Sozialhilfe versäuft,
verschenkt oder für einen Beischlaf verprasst. Ein Veteran,
der seine Erinnerung in Vietnam gelassen hat und niemals richtig nach
Hause gekommen ist. Die Sprache des Romans, oft wie ein
Bewusstseinsstrom ausufernd, verrät das deutlich: da
“zogen Wolken am Himmel wie heranrauschende Bomben”
und “die Scheinwerfer der Wagen stürzten vorbei wie
Klumpen aus Napalm”.
Jimmy liebt Gloria. Aber Gloria existiert nicht. Sie ist die
imaginierte Verkörperung eines beinahe kindlichen Wunsches
nach Reinheit, Schönheit und einer harmonischen Beziehung.
Jimmy ruft sie aus toten Telefonzellen an, redet mit ihr auf den
Strassen und versucht sie in den Prostituierten wiederzufinden, denen
er nachsteigt, sooft es seine dürftigen Finanzen erlauben.
Jimmy bezahlt auch dafür, dass die Huren ihm Geschichten und
Erinnerungen erzählen, die er anschliessend in eigene
Erinnerungen an und von Gloria verwandelt.
Doch in dem Moment, als Gloria “wirklich und
vollendet” in seinem Kopf erscheint, verlässt sie
ihn. Der Wunschtraum kann nicht unendlich ausgedehnt werden, mit dem
Erreichen des Ziels entsteht eine furchtbare, durch Alkohol kaum mehr
aufzufüllende Leere, Jimmy ist auf die primitivsten Handlungen
reduziert: “Das Problem ist, sagte er sich, wie kann ich
einen Fuss vor den anderen setzen, Tag für Tag, für
den Rest meines Lebens?” Jimmys Bemühen, Gloria
durch weitere Fremd-Erinnerungen in ein reales Leben
zurückzuholen, nimmt immer verzweifeltere Formen an. Am Ende
zerstören die sexuellen Perversionen, von denen Jimmy
erfährt, jeglichen Hauch von Schönheit und Reinheit,
sie treiben ihn - es bleibt letztlich unausgesprochen und wird
allenfalls angedeutet - in die schlimmste Brutalität.
In einem anderen Roman würde man Jimmys Charakterisierung
vielleicht als eindimensional bezeichnen, doch hier spiegelt sie auf
erschütternde Weise einen Menschen, der sich ohne Erinnerung
und ohne Zukunftsperspektive in einem Strudel von Alkohol, Sex und dem
Wunsch nach einem sei es noch so kitschigen Stückchen
Glück bis hinab auf den Grund der Hölle kreiselt. Hat
der Krieg Schuld an Jimmys Misere? Der Erzähler Vollmann
enthält sich fast aller Kommentare; und der Tenderloin ist
eine in sich abgeschlossene Welt, die keinen Ausblick nach draussen
ermöglicht. Wie lange das Gift des Krieges in den Adern rinnt,
zeigt Jimmys Freund, der Penner Code Six, dessen Gedanken auch zwanzig
Jahre später noch vom Hass auf Vietnamesen getrübt
sind.
Geradezu heroisch ist Vollmanns Absicht, in all dem Dreck und der
Hässlichkeit die winzigen Funken von Hoffnung und
Schönheit einzufangen. Vollmann moralisiert nicht und
analysiert nicht. Er seziert seine Beobachtungen mit scharfem Skalpell
und einer manchmal ins Expressive gesteigerten Sprache (“eine
Strassenlaterne puderte ihre Nacktheit sehr weiss”), er
dokumentiert und verdichtet dann alles zu einer höchst
eigenwilligen Poesie.
Fröhlichkeit allerdings stirbt bei dieser Lektüre ab.
“Huren für Gloria” ist ein Faustschlag ins
Gesicht des prüden, konservativen Teils Amerikas. Vielleicht
ist der bereits 1991 im Original erschienene Roman nicht Vollmanns
wichtigster. Aber die Obsession, mit der Vollmann seine Perspektive vom
Rande der Gesellschaft verfolgt, findet sich auch in seiner geradezu
zwanghaften, erstaunlichen Produktivität wieder: genannt seien
die monumentale siebenbändige Studie über Gewalt,
“Rising Up and Rising Down”, und der noch nicht
abgeschlossene Roman-Zyklus “Seven Dreams: A Book of North
American Landscapes”, die die Kritik überwiegend
begeistert aufnahm.
Jürgen Brôcan
William T. Vollmann: Huren für Gloria. Aus dem Amerikanischen von Thomas Melle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 200 S., Fr. 32.30.