Sehen heißt ändern
Amerikanische Dichterinnen des 20. Jahrhunderts.
Eine zweisprachige Anthologie


Louise Bogan

Die Libelle

Aus fast nichts bist du geschaffen,
Doch das genügt,
Große Augen zu sein
Und durchschimmernder Doppelfittich;
Unaufhörliche Bewegung zu sein,
Nicht endender Hunger,
Umklammernde Liebe.

Glied zwischen Wasser und Luft,
Die Erde weist dich zurück.
Licht berührt dich nur, um sich in Schillern zu wandeln
Auf deinem Leib und deinen Schwingen.

Zweimal Geborene, Räuberin,
Du spreizt dich in die Hitze.
Seglerin jenseits von Berechnung und Beute,
Du schnellst in den Schatten,
Der dich verschlingt.

Du schießt in den Tag.
Doch zuletzt, wenn der Wind die Gräser plättet,
Halten Ziel und Absicht für dich ein.

Und du stürzt
Mit den anderen Hülsen des Sommers.

 

Amy Clampitt

Allmähliches Aufklaren

Spät am Tag wrang der Nebel
sich in Regenschneisen
selbst aus wie ein Schwamm,
durchsiebte die halbunsichtbare
Bucht mit Speerspitzen;
dann, in einem Hub
von Strähnen und Schals, von Rauchringen
aus dem Umkreis der Inseln, enthüllend,
was wellendes Fischnetzplissee
gewesen ist von der Glätte
von Peau-de-soie oder frisch gebügeltem
Perkal, mit Schiffchenmuster
aus Feim draußen, wo die Felsen sind,
in glitzernder Nichtfarbe,
Striemen aus Platin und
Magnesium, die sich überziehen,
Minute um Minute, mit heimlichem
Rosa und Violett, mit opalner
Tönung der Wolfsmilch, ein Geweb,
über das man nur im Flüsterlaut spricht,
begann er, am gesamten Horizont,
sich allmählich zu entsiegeln
wie die Lippe einer Höhle
oder einer hohlen,
einsamen, perlen-
hervorbringenden Meermuschel.

 

Linda Pastan

Orpheus

Als Orpheus sich umdrehte
und zurückblickte und erkannte,
daß Genie nicht ausreicht,
da frage ich, was er am meisten beklagte:
seinen schwachen Willen,
die verlorene Eurydike,
oder was es für sie wohl bedeutet,
ein Bruchstück
der Finsternis zu bleiben?

Zähmte er noch wilde Tiere
mit seinen Liedern
oder schien ihm das jetzt wie ein Kinderspiel?
Stimmte er seine Leier
in Molltöne
und die letzten Noten fielen heraus
wie braune Blätter,
um nach Lesbos zu treiben?

In Balanchines Ballett
schien das Scheitern Eurydikes Schuld,
die ihm seine Augenbinde ablockte,
als müsse der Künstler entschuldigt werden,
als ob das, was zählt,
der Körper ist —
das mit Sehne und Knochen
gestrichene Instrument
macht seine eigene Musik.




Eine Anthologie amerikanischer Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts
mit Gedichten von Mary Barnard, Louise Bogan, Amy Clampitt, Rita Dove,
Elaine Equi, Kathleen Fraser, Alice Fulton, Isabella Gardner, Louise Glück,
Jorie Graham, Barbara Guest, Ellen Hinsey, Carolyn Kizer, Denise Levertov,
Amy Lowell, Marianne Moore, Hilda Morley, Marilyn Nelson, Lorine Niedecker,
Sharon Olds,
Alicia Suskin Ostriker, Linda Pastan, Adrienne Rich,
Muriel Rukeyser, Kay Ryan, Ruth Stone, May Swenson, Marilyn Taylor,
Mona Van Duyn, Miriam Vermilya.


Der Band "Sehen heißt ändern" ist im Herbst 2006 in der Schriftenreihe
der Stiftung Lyrik Kabinett München erschienen.